In einem extrem schlecht recherchierten Artikel vom 08.12. sitzt die Lüneburger Landeszeitung der immer wieder auftauchenden Mär der Renaissance der Atomkraft auf. Während weltweit der Atomstrom immer mehr abnimmt, versucht die Atomindustrie, bzw. interessierte politische Kreise aus FDP und CDU, deren Aufschwung herbeizureden. Und die LZ merkt nicht, dass da keine Substanz vorhanden ist.
Wir möchten hier dezidiert am Artikel von Matthias Koch (Texte in schwarz) einen Realitätscheck (Texte in blau) machen.
Die neuen Freunde der Kernkraft
Von Matthias Koch (RND)
Der Klimaschutz verändert die Sichtweise. Die Atomkraft, in Deutschland totgesagt, findet derzeit weltweit verblüffend viele neue Freunde – sogar in ehemaligen Ausstiegsstaaten wie Schweden. Beim UN Klimagipfel in Dubai haben 22 Staaten soeben vereinbart, ihre AKW-Kapazitäten bis zum Jahr 2050 zu verdreifachen.
Realitätscheck
Grundsätzlich stimmt der Blick auf jene „Dubai-Connection“ so. Diese Vereinbarung gibt es. Nur neu sind die Freude nicht, sondern die alten Verdächtigen. Und was sich Herr Koch aber gespart hat, ist sie auf ihren Realitätsgehalt zu prüfen. Wäre der Ausbau der Atomkraft, wie ihn die Vereinbarung vorzeichnet, überhaupt möglich?
Hier lohnt ein Blick in die Statistik der IAEA und den, in dieser Woche erschienenen, World Nuclear Industry Status Report.
Demnach geht der Anteil der Atomkraft an der globalen Stromproduktion seit 1996 kontinuierlich zurück, auf nun 9,2 %. Ein zukünftiger Anstieg ist nicht in Sicht. Denn es werden kaum Neubauten gestartet. Und die Inbetriebnahme dauert durchschnittlich 10 Jahre.
Tabelle: Jährlicher Baubeginn und Inbetriebnahme von AKW weltweit
Baubeginn | Inbetriebnahme | |
2012 | 2 | 6 |
2013 | 4 | 3 |
2014 | 5 | 2 |
2015 | 10 | 9 |
2016 | 10 | 3 |
2017 | 4 | 5 |
2018 | 9 | 5 |
2019 | 6 | 5 |
2020 | 5 | 5 |
2021 | 6 | 10 |
2022 | 6 | 8 |
2023 | 4 | 4 |
Und Realität ist auch das hohe Alter der Reaktoren. Selbst mit einer Laufzeitverlängerung auf 50 Jahre, wie jetzt in Frankreich beschlossen, müssen bis 2050 weltweit 270 AKW ersetzt werden. Alleine in Frankreich 54 der jetzt laufenden 56 Reaktoren.
Daraus ergibt sich eine einfache Rechnung: Derzeit sind weltweit 412 Reaktoren im Betrieb. Es müssten also 824 zusätzliche gebaut werden. Hinzu kommen die 270 Reaktoren, die aus Altersgründen vor 2050 vom Netz gehen werden. Das macht zusammen 1094 zusätzliche AKW. Um die 2050 am Start zu haben, müsste der letzte Baustart 2040, in 17 Jahren, erfolgen.
Um bis 2050 den Atomstromanteil zu verdreifachen müssten also jährlich 64 Atomkraftwerke in Bau gehen.
64 statt, wie in diesem Jahr, 4.
Wie unrealistisch das ist, zeigt das Beispiel Frankreich. Dort hat Herr Macron den Bau von sechs Reaktoren angekündigt. Kurze Zeit später teilte der Staatskonzern EDF mit, dass man dafür gar nicht die kurzfristige Kapazität habe. Der erste Reaktor werde 2039 ans Netz gehen, der letzte 2050 (Alle Daten aus dem Frankreich Kapitel im WNISR 2023).
Zentrale Engstelle sind dabei die Personalkapazitäten alleine in Frankreich fehlen für den Bau der geplanten sechs Reaktoren 100.000 Fachkräfte.
Wer soll denn die 64 Reaktoren pro Jahr bauen?
Atomkraft? Viele Deutsche wollen davon am liebsten gar nichts mehr hören. Sie sind froh, dass Bundeskanzler Olaf Scholz die Sache im September dieses Jahres für erledigt erklärt hat: „Das Thema Kernkraft ist in Deutschland ein totes Pferd.“
Die Welt um uns herum sieht es allerdings ein bisschen anders.
Realitätscheck
Zur Welt um uns herum gehören aber auch alleine in Europa Länder wie Norwegen, Dänemark, Irland, Luxemburg, Portugal, Griechenland, Italien, Österreich, Estland, Lettland, Island, die ganz gut auf Atomkraft verzichten können. Mehr als die Hälfte der EU-Staaten ist frei von Atomkraft. Wenn von weltweit knapp 200 Ländern nur 34 Atomstrom nutzen, fragt man sich, wer da auf einem Sonderweg unterwegs ist.
Beim UN Klimagipfel in Dubai zum Beispiel zeigte sich dieser Tage das tote Pferd verblüffend lebendig. Da verabredeten 22 Staaten der freien Welt, ihre AKW-Kapazitäten bis zum Jahr 2050 zu verdreifachen. Anders, heißt es in der gemeinsamen Erklärung, sei die geforderte Reduzierung des Kohlendioxidausstoßes nicht zu schaffen.
Zu den Unterzeichnerstaaten gehören die USA, Kanada, Japan, Südkorea, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Polen, Schweden, Finnland, Tschechien, Ungarn und Rumänien. Sie alle schielen jetzt auf Kredite der Weltbank. Russland und China investieren ohnehin seit Langem beträchtliche Summen in die Atomenergie. Peking plant derzeit sechs bis acht neue Reaktoren pro Jahr. 55 sind schon am Netz.
Realitätscheck
In der Realität liegt der Atomstromanteil in China nur bei 5 %. Erneuerbare Energie machen in China hingegen 15,4 % der Stromproduktion aus, also drei Mal so viel wie Atomstrom.
Zuwachs und Investitionsausgaben liegen bei den Erneuerbaren auch in China weit über denen im Nuklearbereich. 2023 sind nur zwei Reaktoren hinzugekommen. Dahingegen hat Solar um 11,2 % und Wind um 28,1 % zugelegt (Alle Daten aus dem China Kapitel im WNISR 2023)
Das Antiatomland Deutschland wurde zur Runde der 22 in Dubai gar nicht erst eingeladen. Man wollte die Berliner nicht in Verlegenheit bringen. Jeder wisse doch, wird in der Branche gewitzelt, dass die Deutschen an dieser Stelle „anders sind als die anderen Kinder“.
Eine Zeit lang gab es in anderen Ländern so etwas wie abwartenden Respekt gegenüber den Deutschen und ihrem energiepolitischen Sonderweg. Inzwischen aber regieren Hohn und Spott. Bei der boomenden Messe World Nuclear Exhibition 2023 bei Paris schüttelten viele Teilnehmer nur noch den Kopf über Deutschland. „Schade“, gab dort ein französischer Manager dem „Spiegel“ zu Protokoll. „Ich mag die Deutschen, die machen gute Arbeit. Sie hatten die besten Atomkraftwerke.“
Realitätscheck
Wie kann das sein? Das letzte Atomkraftwerk ging in Deutschland 1988 ans Netz. Auf keines davon wurden die 2012 verschärften EU Sicherheitsanforderungen angewandt. Die Atomlobby behauptet, dass bei modernen AKW das Störfallrisiko durch neue Technik reduziert worden sei. Und dennoch sollen 35 Jahre alte Reaktoren die besten der Welt sein?
Am 15. April dieses Jahres schaltete Deutschland seine drei letzten Kernkraftwerke ab. Grüne und SPD hatten innerhalb der Ampelkoalition darauf bestanden.
Mit dem Beschluss wurden drei im europäischen Maßstab überdurchschnittlich moderne und leistungsfähige Meiler vom Netz genommen.
Realitätscheck
Überdurchschnittlich modern? Auch bei dieser Aussage lohnt der Faktencheck anhand der Daten der IAEA. Dabei wird deutlich, dass die drei über dem globalen Altersdurchschnitt lagen (Datengrundlage WNISR 2023).
Tabelle: Durchnittsalter der Reaktoren
Land | Durchschnittsalter der Reaktoren |
Niederlande | 50 Jahre |
Schweiz | 47,3 Jahre |
Belgien | 44,2 Jahre |
USA | 42,1 Jahre |
Schweden | 41,0 Jahre |
Frankreich | 38,0 Jahre |
Isar, Neckarwestheim Emsland beim Abschalten | 36,6 Jahre |
Großbritannien | 36,1 Jahre |
Japan | 32,4 Jahre |
Globaler Durchschnitt | 31,5 Jahre |
Russland | 29,9 Jahre |
Indien | 25,2 Jahre |
Südkorea | 23,1 Jahre |
China | 9,6 Jahre |
Die AKWs Emsland (Niedersachsen), Isar 2 (Bayern) und Neckarwestheim 2 (Baden-Württemberg) lieferten genug Strom für 10 Millionen Haushalte. Nicht nur Union und FDP in Deutschland sahen ihre Abschaltung als Fehlentscheidung. Klimaschützende rund um den Globus schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Allein diese drei Reaktoren hätten dem Planeten den Ausstoß von 30 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr erspart, hieß es in einem offenen Brief von Physikerinnen, Physikern und Klimaforschenden aus aller Welt, darunter zwei Nobelpreisträgern, an den deutschen Bundeskanzler.
Realitätscheck
Ja diesen offenen Brief gab es. Allerdings ging er nicht von Klimaschützern rund um den Globus aus. Nur 20 Wissenschaftler*innen haben ihn unterschrieben.
Alleine in Frankreich haben sich hingegen im Juni 2023 über 400 Wissenschaftler*innen gegen das Atomprogramm der Regierung ausgesprochen.
Die Forschenden plädierten dafür, die Abschaltung in letzter Minute zu stoppen. Ein Laufenlassen der deutschen Reaktoren liege „im Interesse der Bürger Europas und der Welt“. Doch der Appell drang nicht durch. In Berlin dominiert ein Denken in den Kategorien nationaler Verabredungen. Die in Parlament und Regierung angekommene Antiatombewegung beharrte auf ihrem Ziel, knapp vier Jahrzehnte nach dem Unglück im Sowjet-Reaktor Tschernobyl wenigstens in Deutschland alle Reaktoren stillzulegen.
Realitätscheck
Nicht die Atomkatastrophe in Tschernobyl wäre hier der Referenzpunkt, sondern ein deutlich aktuelleres Ereignis: Die Mehrfachhavarie –der so genannte SuperGAU– mit 3 Kernschmelzen am japanischen AKW-Standort Fukushima vor erst 12 Jahren, die bis heute massive Nachwirkungen und das tägliche daran Arbeiten in Fukushima zeitigt.
Und wenn sich Herr Koch hier auf Tschernobyl bezieht, hätte man doch vielleicht an dieser Stelle auch auf die Angriffe auf Atomanlagen in der Ukraine hinweisen müssen. Immerhin steht es seit 1 ½ Jahren immer wieder kurz vor einer Atomkatastrophe in den Anlagen in Tschernobyl und Saporischschja.
Einen guten Überblick zu der Situation dort gibt das regelmäßige Update der Gesellschaft für Reaktorsicherheit, die nicht im Verdacht steht, zur Anti-Atom-Bewegung zu gehören.
Ein grundsätzliches Missverständnis, gibt es im Artikel, wann denn die „letzte Minute“ war.
Im Prinzip gab es mindestens vier letzte Minuten.
- 2012 hat die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung entschieden, dass die neuen Sicherheitsanforderungen für Atomanlagen nicht mehr auf die laufenden AKW angewendet werden müssen, da die ja bis Ende 2022 abgeschaltet werden.
- 2018 gab es Stimmen aus der Atomwirtschaft, dass man nun mit dem geplanten Stellenabbau beginnen werde, wenn es keinen Ausstieg aus dem Ausstieg gebe. Die damalige schwarz-rote Regierung hat nicht reagiert.
- 2019 wurden bei den drei verbliebenen AKW keine periodischen Sicherheitsuntersuchungen mehr durchgeführt, weil Schwarz-Rot am Ausstieg festhalten wollte.
- Im Sommer 2020, vor der Bundestagswahl, hätten Brennelemente bestellt werden müssen, um den Weiterbetrieb zum Ende 2022 nahtlos hinzubekommen.
Auch wenn sich die Grünen gerne damit brüsten: die „letzte Minuten“ und damit die Verantwortung für das Abschalten der letzten AKW in Deutschland fallen alle in die Zeit, als die CDU an der Macht war.
Der Zeitpunkt für den Ausstieg hätte nicht schlechter gewählt werden können. Der entstandene Schaden ist beträchtlich: strategisch, ökonomisch, klimapolitisch.
Der Atomausstieg schwächt Deutschlands Stromversorgung in einem Moment, in dem Russland den größten Krieg in Europa seit 1945 begonnen hat. Er steigert die Verunsicherung von Firmen wegen hoher Strompreise und treibt Investitionen ins Ausland. Zudem, darin liegt der Hohn, trübt er auch noch Deutschlands Klimabilanz. Im Ergebnis steht Deutschland doppelt dumm da: Berlins Energiepolitik verbindet das ökonomisch Schädliche mit dem ökologisch Peinlichen.
Schon seit vielen Jahren erlauben sich die Deutschen einen deutlich höheren Kohlendioxidausstoß pro Kopf als etwa Frankreich. Mit der neuerdings wieder wachsenden winterlichen Gas- und Kohleverstromung wird Deutschlands klimapolitischer Fußabdruck sogar noch etwa hässlicher als bisher.
Realitätscheck
Was hier stimmt: der Kohlendioxidausstoß von Frankreich ist besser, als der von Deutschland. Man hätte an der Stelle aber auch erwähnen können, dass Island und Norwegen ohne Atomstrom ähnlich niedrige C02-Emissionen bei der Stromproduktion hat, wie Frankreich; Tschechien trotz 35 % Atomstrom schlechtere Werte als Deutschland (alle Werte laut Electricity Maps).
Falsch ist die Aussage, dass die Werte in Deutschland nach dem Atomausstieg schlechter würden. Hier lohnt erneut ein Faktencheck. Diesmal anhand Zahlen der Electricity Maps.
Im November 2023 lagen die C02-Emissionen aufgrund der Stromproduktion in Deutschland bei 438 g /kWh. Das ist ein schlechter Wert, aber immer noch besser als die 511 g/kWh im Jahr davor.
Der bessere Wert resultiert daraus, dass der Anteil der Erneuerbaren selbst im Winter von 47 % auf 59 % gestiegen ist. Dabei war der Zuwachs an Erneuerbarer Energie vom November 2022 zum November 2023 mit 3,4 TWh höher als die 2,8 TWh Atomstrom aus dem November 2022.
Deutschland steht nach dem Ausstieg also besser da als vorher und nicht schlechter.
Ebenfalls fehlt hier der Hinweis, dass auch Atomkraftwerke witterungsanfällig sind.
Klimabedingte Niedrigwasserphasen stellen die Kühlung der Reaktoren vor immer größere Probleme. Für die Rhône werden zum Beispiel bis 2050 mit im Schnitt bis zu 40 Prozent weniger Wasser gerechnet. Macron kündigte daraufhin Umbaumaßnahmen bei den AKW an, die sein eigenes Umweltministerium postwendend als unrealistisch einschätzte, weil kein Geld für mögliche Umbauten eingeplant seien und die Kosten „exorbitant und der Nutzen gering“ wäre.
Vor Beginn der Weltklimakonferenz in Dubai aber wagte jetzt immerhin der Chef der Weltorganisation für Meteorologie, der Finne Petteri Taalas, ausnahmsweise mal Klartext: Deutschland solle, sagte Talaas in Genf, „den Atomausstieg überdenken“. Ohne Atomkraft den Kohleausstieg zu bewerkstelligen und trotzdem genügend bezahlbare Energie herzustellen, werde nämlich „schwierig“.
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„Bezahlbar“ und „Atomstrom“ ist ein Widerspruch in sich, denn der Neubau von AKW ist extrem teuer.
Im April verkündete der Urankonzern Urenco den Ausstieg aus der Entwicklung von Mini-Reaktoren, es fanden sich keine Risiko-Investoren.
Nur zwei Monate später musste der Branchenführer NuScale zugeben, dass die prognostizierten Kosten je Megawattstunde von ursprünglich 58 Dollar auf 89 Dollar steigen. Das Projekt in Wyoming ist inzwischen eingestellt.
Die Neubauprojekte Olkioluto 3 in Finnland, Flammanville in Frankreich und Hinkley Point C in Großbritannien sind alle finanziell aus dem Ruder gelaufen. Ursprünglich sollte jeder dieser Reaktoren rund 3 Milliarden Euro kosten. Olkioluto 3 ging letztes Jahr für 11 Milliarden Euro ans Netz. An den beiden anderen wird noch gebaut. Aktuelle Kostenschätzung Flamanville: 19 Milliarden Euro; Hinkley Point: 22 Milliarden Euro.
Um den Bau von Hinkley Point C zu finanzieren, wurde für die nächsten 35 Jahre ein Strompreis in Höhe von 92,50 Pfund pro Megawattstunde garantierten. Die Differenz zum Marktpreis zahlt der britische Staat.
Auf die britischen Verbraucher kommen vermutlich Mehrkosten von bis zu 35 Milliarden Pfund zu.
Gleichzeitig sinken die Baukosten für Solar- und Windkraftanlagen.
Die unten stehende Abbildung basiert auf Daten des WNISR 2022 und stammt aus dem Uranatlas, der von mehreren Umweltorganisationen veröffentlicht wurde.
Anders als die Deutschen haben die Skandinavier frühzeitig das Dilemma als solches erkannt. In Finnland zum Beispiel formierte sich sogar bei den Grünen schon vor einigen Jahren eine Strömung, die nach und nach die Gefahren durch den Klimawandel als gravierender empfand als die Gefahren durch den Betrieb moderner Kernreaktoren.
„Unsere jüngsten Mitglieder haben die Dinge neu gewichtet“, sagt Veli Liikanen, Generalsekretär der finnischen Grünen. „Heute sind bei uns viele im Alter von 20 plus unterwegs, die selbst aus technischen Berufen kommen und wohl auch deshalb wenig Angst vor Technik haben. Was ihnen wirklich Angst einjagt, ist der Klimawandel.“
Realitätscheck
Auch hier stimmen die Aussagen nur zum Teil. Zur Realität gehört, dass ein Neubauprojekt am neuen Standort Hanhikivin 2022 gestoppt wurde.
Zudem: das Anfang diesen Jahres ans Netz gegangene AKW Oikiluoto 3 wird immer wieder abgeschaltet – mal, weil der Strom aus Wasserkraftwerken billiger ist, mal, weil es technische Störungen gibt.
Finnland diskutiert über das Thema ohne die in Deutschland übliche Feindseligkeit. Zur entspannteren Gangart trug bei, dass Finnland die leidige Endlagerfrage beantwortet hat: durch bereits im Bau befindliche Strukturen in einer Felsformation. Die Finnen wollen ihre radioaktiven Abfälle in Granit einlagern und dann auf Nimmerwiedersehen zuschütten. Als Lagerstätte wurde fennoskandisches Grundgebirge ausgesucht, das schon 1,8 Millionen Jahre in seiner jetzigen Formation überdauert hat.
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Auch hier fehlen einige wichtige Fakten.
Es wird der Eindruck erweckt, dass Finnland schneller bei der Endlagersuche ist und die Entscheidung für Granit als Wirtsgestein einen geologischen Hintergrund hat.
Als Erstes muss man hier ergänzen, dass es in Finnland außer Granit gar keine Option gibt. Im deutschen Suchverfahren können auch Ton- und Salzgestein mitbetrachtet werden. Auf dem Forum Endlagersuche in Halle in diesem November gab es gleich mehrere Stimmen, die dafür sprachen, Granit frühzeitig auszuschließen, da in diesem Gestein immer mit dem Eindringen von Wasser zu rechnen ist. Die finnische Option wird hier eher als kritisch gesehen.
Herr Koch nennt es eine entspannte Gangart, man könnte es auch risikofreudig nennen. Denn am Standort Onkalo ist alle 2500 Jahre mit einem Erdbeben zu rechnen und wenn der Meeresspiegel klimabedingt steigt, überschwemmt die nahe Ostsee das Endlager.
Und schneller ging es in Finnland auch nicht. Auch dort hat man über Jahrzehnte gesucht. Jahrzehnte, die in Deutschland damit verschwendet wurden, mit Gorleben an einem Standort festzuhalten, bei dem schon in der 80er Wissenschaftler*innen auf die gravierenden Sicherheitsmängel hingewiesen hatten.
Diese Aussichten ließen die Risiken der Atomkraft aus finnischer Sicht auf ein beherrschbares Maß schrumpfen. Gewachsen ist indessen der Wunsch, unabhängig zu bleiben vom unberechenbaren Nachbarland Russland.
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Ähnlich wie bei den Kosten, ist „Atomkraft“ und „Unabhängigkeit von Russland“ ein Widerspruch in sich.
Der russische Staatskonzern Rosatom hat sich in den letzten Jahrzehnten wie eine Krake im globalen nuklearen Geschäft ausgebreitet. Selbst die USA mussten feststellen, dass sie bei der Uranversorgung ihre zivilen und militärischen Anlagen von Russland abhängig ist.
Aktuell versucht der russische Konzern über ein Joint Venture mit Frankreich einen Fuß in die Brennelementfertigung am Standort Lingen zu bekommen. Russische Mitarbeiter in einem Hochsicherheitsunternehmen auf deutschem Boden.
Derzeit befinden sich außerhalb Chinas nur 34 Reaktoren im Bau. 20 davon baut Rosatom und schafft damit langfristige Abhängigkeiten (Angaben nach IAEA und WNISR).
Hinzu kommt der Wunsch, die Menschen schon aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit mit preiswerter Energie zu versorgen.
Realitätscheck
Und wieder das absurde Kostenargument. Das doch eigentlich gegen Atomkraft spricht.
Eine weitere Abbildung aus dem Uranatlas, diesmal auf Basis von Berechnungen des Frauenhofer-Instituts, zeigt, dass auch bei bestehenden Anlagen Atomstrom deutlich teurer ist als Wind- und Solarstrom.
Ähnlich ticken die Schweden. Jahrzehntelang war das Land auf Atomausstiegskurs. Doch an drei Standorten blieben sechs Reaktorblöcke am Netz. Inzwischen formieren sich Mehrheiten für einen umfassenden nuklearen Neustart.
Zu den wichtigsten Proatomtreiberinnen in Schweden gehört die Umweltministerin. Für die erst 28 Jahre alte Romina Pourmokhtari gehören Klimaschutz und Atomkraft zusammen. Anders sei beispielsweise der Umstieg auf E Mobilität nicht zu schaffen.
Pourmokhtari, eine Liberale, wurde als Tochter eines iranischen Einwanderers in einem Vorort von Stockholm geboren. In Uppsala hat sie Politik studiert. Pourmokhtaris unkonventioneller Politikmix hat anfangs viele verwirrt, findet aber zunehmend Anhängerinnen und Anhänger. Sie setzt sich ein für höhere Steuern auf Kohlendioxidemissionen und auf Kapital, zugleich verlangt sie niedrigere Steuern auf Arbeit und Strom.
In einer Erklärung zum Thema Ny Kärnkraft (Neue Kernkraft) schrieb Pourmokhtari im November, Schweden müsse sich auf die Verdopplung des Stromverbrauchs in den nächsten 20 Jahren einstellen. Ihre Regierung wolle daher „den Betrieb von mehr als zehn Reaktoren zulassen und den Bau von Reaktoren auch dort ermöglichen, wo es derzeit keinen Reaktor gibt“.
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Da hat Herr Koch wohl verpasst, dass es um diese Aussage große Verwirrung in der Regierung gab, weil Frau Pourmokhtari die nicht abgesprochen hatte. Das Ausbauversprechen wurde inzwischen wieder relativiert. Völlig unklar auch, wie es zu finanzieren wäre. Schon jetzt rechnen sich die Altreaktoren in Schweden nicht. Für die AKW-Neubauten in Schweden würden laut einer Studie aus dem Jahre 2021 Produktionskosten von 4,2 bis 5,5 Eurocent pro Kilowattstunde anfallen, während der durchschnittliche Strompreis in Schweden bei 3,2 Eurocent pro Kilowattstunde liegt.
Polen hat in diesem Herbst schon Nägel mit Köpfen gemacht. Am 29. September verkündete die Regierung in Warschau eine Zeitenwende: den Einstieg Polens, das jahrhundertelang an der Kohle hing, in die zivile Nutzung der Kernenergie, und zwar auf breiter Front.
Als Erstes plant Polen den Bau von drei Reaktoren an der Ostseeküste, im Ort Choczewo, eine Autostunde nordwestlich von Danzig. Die Verträge wurden bereits feierlich unterschrieben. Vertreter zweier amerikanischer Konzerne reisten an: Kernkraftspezialist Westinghouse und Bauriese Bechtel.
Bis 2043 will Polen insgesamt sechs neue Kernreaktoren ans Netz gehen lassen. Auch südkoreanische Technologieanbieter sollen zum Zuge kommen. In früheren Zeiten wäre das ein Fall für Siemens gewesen.
Realitätscheck
Tatsächlich setzt Polen auf einen Einstieg in die Atomenergie. Allerdings nicht erst seit diesem Herbst. Das polnische Atomprogramm stammt von 2008 und mündete im Februar 2023 in die Vertragsunterschrift für drei Reaktoren der Firma Westinghouse. Kostenumfang 20 Milliarden US-Dollar.
Für drei weitere Reaktoren gibt es Verhandlungen mit Korea Hydro & Nuclear Power. Vom Vertragsabschluss ist man aufgrund von wettbewerbsrechtlichen Klagen aber noch weit entfernt.
Siemens ist übrigens schon 2011 aus dem Bau von Atomkraftwerken ausgestiegen. „1 % des Umsatz‘, 100% des Ärgers“ hieß es damals dazu.
In Polen warnen inzwischen Stimmen aus der neuen, noch nicht ins Amt gesetzten Regierung Tusk vor den Atomplänen. Grund sind vor allem die Kosten.
Denn der Reaktor von Westinghouse steht für eine der größten Investitionsruinen aller Zeiten. Vier Reaktoren dieses Typs waren in den USA im Bau. Aufgrund der Kostenexplosion wurden 2018 unter der Trump-Regierung zwei Projekte im Bau abgebrochen, obwohl schon 40 % der Arbeiten erledigt waren.
Die beiden anderen am Standort Vogtle wurden weiter gebaut. Eines ist inzwischen mit sechs Jahren Bauverzögerung am Netz. Ursprünglich waren für die beiden Reaktoren 14 Milliarden Euro veranschlagt worden. Inzwischen ist man bei 30 Milliarden angekommen. US-Branchenanalysten zufolge wird die Megawattstunde 168 Dollar kosten – etwa das Vierfache von Windstrom. Vor diesem Hintergrund mag man an daran zweifeln, ob die 20 Milliarden für die drei polnischen Reaktoren zu halten sind.
Trotzdem stimmt die Aussage, dass Polen in die Atomenergie einsteigt. Was aber fehlt, ist der Hinweis, dass Polen da auf einsamer Flur steht.
Nur in Nigeria, Kasachstan, Usbekistan und Saudi-Arabien gibt es derzeit konkrete Überlegung über einen Einstieg. Keines dieser Länder hat das Stadium eines Vertragsabschlusses erreicht, weder gibt es Standortentscheidungen, noch Ausschreibungsverfahren.
Indonesien, Vietnam, Thailand und Jordanien haben ihre Nuklearprogramme eingestellt (Angaben aus dem Kapitel Newcomer des WNISR)
Polen ist also kein Beispiel sondern eine Einzelfall.
Das Beispiel Polen zeigt: Die in Dubai an die Öffentlichkeit getretene Proatomallianz will nicht nur Erklärungen abgeben und Papiere bedrucken. Sie ist schon dabei, Fakten zu schaffen, und zwar in großem Stil – an Deutschland vorbei.
Realitätscheck
Dass es einen Ausbau im großen Stil gibt, bleibt zu bezweifeln. Zu erwarten ist allenfalls ein Abbremsen des Abschwungs.
Aber die nahe Zukunft wird es ja schon zeigen. Um das Ausbauziel zu erreichen, bräuchte es bis Ostern 20 Baustarts, bis zum Nikolaustag müssten weitere 40 hinzukommen.
Da wetten wir doch eine Kiste Bionade, dass schon die erste Hürde gerissen wird. Ob Herr Koch wohl dagegen wettet?
Toller Artikel,
leider war auch heute in der Süddeutschen Zeitung auf der Wissensseite ein großer Artikel zu dem Thema, der aber nicht ganz so einseitig war. Allerdings auch nicht im Ansatz so gut recherchiert, wie euer Faktencheck hier.
Ich denke, da gab es wohl eine Presseerklärung, die von den Zeitungen verarbeitet wird.
Bitte schickt unbedingt auch an die Süddeutsche euren Faktencheck! Ständig muss man wieder über dieses „tote Pferd“ diskutieren.
Danke!
Sehr gut.
Die mainstram-Presse hat die journalistische Pflicht zur exakten Recherche aufgegeben und verbreitet weitestgehend nur noch Meinungen – vor allem die der Groß-Industrie und der Atom-Lobby.
Zu Polen:
Der Sicherheits- / Geheimdienst ABW hat sich ablehnend betr. der Absicht, SMRs in Polen zu installieren, geäußert; vermutlich, weil das Sicherheitsrisiko zu hoch ist.
(https://notesfrompoland.com/2023/12/09/part-of-polands-nuclear-plans-in-question-after-negative-assessment-by-security-agency/)
beste Grüße
G.
Super Artikel, dessen Relitatscheckliste wir immer wieder für die regionale und internationale Arbeit nutzen können.
Danke,
Angelika Claussen, IPPNW Co-Vorsitzende
Sehr guter Artikel. In der amerikanischen Presse wurde bei Vogtle 35 Mrd. US Doller angegeben. Da das 4. AKW in Vogtle vermutlich im nächsten Jahr ans Netz gehen wird, bleibt abzuwarten, wie teuer es wird. Für die beiden abgebrochenen AKW im Nachbarstaat müssen die amerikanischen Kunden hohe Stromkosten auf Dauer bezahlen.
Auch ich werde immer wieder auf den Artikel zurückgreifen. Klasse!
Sonnige Grüße
AKDieter
Danke für den Faktencheck. Danke für die Gegenrede.
Kein privatwirtschaftliches Unternehmen hat m.W. jemals ein AKW gebaut, weil es sich nicht rechnet, selbst wenn man die Risikofaktoren nicht mit einbezieht.
vG
Gerade das ist ja der „Witz“: dass die Risikofaktoren nie eingepreist werden…
In einer älteren Version hatten wir bei der Quelle der beiden Abbildungen geschrieben, der Uranatlas sei vom BUND. Diese, wirklich sehr lesenswerte, Broschüre ist aber ein Gemeinschaftsprojekte mehrerer Organisationen (Nuclear Free Future Foundation, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Greenpeace, BUND und .ausgestrahlt). Wir haben das im Artikel geändert.
Danke für diese detaillierten Ausführungen gegen den immer wieder hier und da aufkommenden „Atom-Optimismus“! Irre teuer, unterschwellig hochgefährlich und eine stete Gefahr für die Gesundheit. In den Atomwaffenstaaten besteht ja wohl auch ein Interesse („Notwendigkeit“?) zur Gewinnung von waffenfähigem Material aus diesen zivilen Reaktoren.