Liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen,
wohl lange nicht ist uns ein Schreck so in die Knochen gefahren wie jetzt bei der Katastrophe in Ostjapan.
Ich persönlich bin seit Freitagabend ständig hin und her gerissen zwischen dauerndem Verfolgen der neuen Nachrichten vor dem Bildschirm, am Radio –
und: dem Wunsch, am liebsten gar nichts davon zu hören. Alltag irgendwie weiter zu leben. Das fällt allerdings sehr schwer.
Und ich bin auch hin und her gerissen von Gefühlen:
Da ist Mitgefühl und Jammer mit den Menschen, die jetzt in Not sind und Angst haben. Traurigkeit, wenn ich von ungeahnten Strapazen gezeichnete Gesichter sehe. Entsetzen, wenn ich mir vorstelle, was auf Menschen und Tiere noch zukommen kann.
Da ist Ohnmacht, gegenüber den Naturgewalten,
Ohnmacht auch gegenüber Gott, der darin für mich unbekannt, rätselhaft und abgründig erscheint.
Und da ist auch Ärger, Wut darüber, dass eine Technologie, von der man schon lange wissen kann, dass sie unberechenbare Risiken hat, immer noch aktiv genutzt wird – und tatsächlich ihr lebensbedrohliches Gesicht zeigt.
Und da ist immer auch: Die merkwürdige Scham, Zuschauerin zu sein. Ganz nah dran – und zugleich so hilflos fern.
Es ist gut, sich mit anderern in diesen Tagen zu treffen und die Gedanken und Gefühle zu sortieren. Gestern in unseren Gottesdiensten war das überall Thema.
Und gestern war ausgerechnet die biblische Geschichte vom sogenannten Sündenfall als Predigttext dran. Der Mythos von Adam und Eva, die von verbotenen Früchten essen und dann vertrieben werden aus dem Paradies.
Jahrzehnte lang wollte diesen Text keiner hören, man glaubte an den Fortschritt, die immer wachsenden Möglichkeiten des Menschen.
Aber jetzt hören viele wieder sehr aufmerksam auf die Geschichte:
Vom Mensch, der sein will wie Gott. Der die ihm gegebenen Grenzen nicht einhalten will. Der die Riskiken verdrängt seines Tuns und nicht abschätzen kann, was er anrichtet. Vom Mensch. der glaubt, er habe schon alles im Griff: und dann feststellt, dass er sich selbst und andere um das Paradies bringt.
Mit Blick auf die schon geschehene und noch drohende atomare Katastrophe in Japan stellt sich die Frage:
Bringen wir Menschen uns und andere heute wieder um Lebensraum, um ein Stück Erde, indem
wir eine Grenze überschreiten, ein nicht beherrschbares Risiko eingehen. Eine unbeherrschbare Technolgie weiter anwenden, obgleich schon seit Tschernobyl jeder wissen kann, was für entsetzliche Folgen sie für Mensch und Schöpfung haben kann?
Wir riskieren viel: dass Land unbewohnbar wird auf viele Jahre. Erde verseucht und Menschen verstrahlt für ihre Lebenszeit und für weitere Generationen?
Für uns als Kirche und für mich persönlich stellt die Bewirtschaftung atomarer Kraftwerke eine klare Überschreitung der uns gegebenen Grenzen dar.
Wir haben weder ihre Risiken im Griff noch wissen wir, wie wir den entstehenden Müll sicher verwahren.
Mit Blick auf die Evakuierungen in und um Fukushima stellte LS Jantzen gestern in seiner Abschiedspredigt die Frage: Steht eine neue Vertreibung bevor – sind wir dabei, die Vertreibung vom Planeten Erde zu riskieren?
Liebe Mitbürger,
es steht viel auf dem Spiel in diesen Tagen. Und in all dem sind wir angewisen und ausgeliefert den Nachrichten, die uns erreichen.
Sie sind ja immer nur Ausschnitte vom Ganzen.
Es gibt sprachliche Mißverständnisse.
Und man muss befürchten, dass politische oder wirtschaftliche Interessen sie leiten. Wie immer geht es auch um viel Geld im Hintergrund.
Wir hören und sehen das alles mit den am Anfang beschriebenen Gefühlen.
Nur eine Regung hebt sich daraus für mich vorsichtig ab:
die Hoffnung, und das drängende Verlangen:
Jetzt muss aus dem Entsetzen ein ernstes Innehalten werden.
Jetzt muss das lange geforderte Umdenken seine Chance bekommen.
Jetzt muss eine Umkehr geschehen von der unbeherrschbaren Atomtechnologie zu einer schöpfungsgerechten und menschengerechten Energieerzeugung.
Die Politiker und Politikerinnen bitten wir als Kirche und bitte ich persönlich, sich dafür zusammenzuschließen. Es muss doch möglich sein, über Parteigrenzen und Ländergrenzen hinweg, ein Bündnis für das Leben zu schließen. Gemeinsam für den Lebensraum Erde einzustehen. Und alles zu tun, was möglich ist: Leben zu schützen, dass so schön und wertvoll ist. Jedes einzelne. Und die Erde zu bewahren, die uns anvertraut ist – für unsere Kinder und Enkel mit.
Wir alle müssen unseren Teil auch dazu beitragen. Durch eine schonende, schöpfungsachtende Lebensweise. Energie darf keinem ein Egalthema sein.
Auch, ja wenn hoffentlich das Unglück in Fukushima weniger furchtbar ausgeht, als wir jetzt befürchten.
Liebe Zuhörer,
Fukushima ist heute ein Name, den wir mit Angst, Mitleid und Schrecken aussprechen.
Dort kämpfen zu dieser Stunde Ingenieure darum, das Schlimmste zu verhindern.
Falten wir die Hände dafür, dass es gelingt.
Und falten wir auch die Hände für die alle Verantwortlichen,
dass sie vernünftig, ehrlich und menschengerechte Entscheidungen treffen.
Und falten wir vor allem die Hände für die Menschen, die jetzt in großer Not sind.
Ich möchte einen Moment der Stille halten.
Mit Worten eines Gebets der Indianer von Seattle möchte ich schließen:
„Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig. Wir sollten mit der Erde leben lernen. Demütig und klug die Gaben nutzen, die sie uns gibt und sorgsam weitergeben, was wir vorgefunden haben.“ Amen
Christine Schmid, Superintendentin
Lüneburg, 14. März 2011