Freigabe, was ist das?

Die sogenannte Freigabe wurde 2002 in die Atomgesetzgebung eingeführt. Dabei werden leichtstrahlende Abfälle zu „Normalmüll“ erklärt. Ein Hauptgrund ist dabei wie so oft das Geld, denn die Freigabe spart Kosten. Würde zum Beispiel der Freigabepfad „Rezyklierung von Metallschrotten“ wegfallen, könnte das durch die dann notwendige Behandlung der Metalle als radioaktiver Abfall nach einer Bewertung durch E.ON für die AKW-Betreiber zu Mehrkosten bei der Stilllegung von bis zu 4 Milliarden Euro führen1

Ein Teil des AKW-Abriss geht in die beschränkte Freigabe zur Deponierung, Verbrennung und Einschmelzung. Der wesentlich größere Teil wird unbeschränkt freigegeben und landet im Bauschuttrecycling.

Für das AKW Krümmel gibt der Betreiber an, dass etwa 4.800 Tonnen in die Deponierung und Verbrennung gehen sollen.2 Dafür wäre nach den ursprünglichen Plänen vor allem die Deponie in Wiershop und die Müllverbrennungsanlage in Brunsbüttel vorgesehen.  Da aktuell keine schleswig-holsteinische Deponie den beschränkt freigegebenen Müll annehmen will, ist der Verbleib offen. Grundsätzlich kämen auch Mülldeponien in anderen Bundesländern infrage- zum Beispiel auch die in Bardowick. Etwa 530 Tonnen sind fürs Einschmelzen vorgesehen und werden uns später als Gulideckel oder ähnliches wiederbegegnen.

Etwa 32.000 Tonnen sollen ins Bauschuttrecycling. 2 Ähnliche Abfälle aus dem Rückbau des AKW Obrigheim ruhen bereits unter der A6 bei Karlsruhe. Wo der Bauschutt aus Krümmel bleibt, ist auch hier noch offen und wird später behördlicherseits auch nicht kontrolliert.

Völlig verwirrend wird es mit dem Begriff Herausgabe. Hierbei handelt es sich um Materialen aus Gebäuden, in denen es nie zu Kontaminationen kommen konnte. Diese werden nur stichprobenartig überprüft und gehen dann direkt in den Wirtschaftskreislauf. Laut Betreiber beim AKW Krümmel 91,4 % der Gesamtmasse also rund 480.000 Tonnen. 2

Freigabe – sind 10µ-Siv wirklich unbedenklich?

Gerne wird der Freigabewert von 10µ-Siv von Behörden und Betreibern mit der natürlichen Hintergrundstrahlung verglichen. Dabei wird der Eindruck erweckt, dass der Freigabewert viel niedriger ist als die Hintergrundstrahlung (richtig) und das obwohl diese ja natürlich und damit harmlos ist (falsch).

  • Die natürliche Hintergrundstrahlung liegt in Deutschland bei 500 µSv/a. Sie ist verantwortlich 8500 Krebstote pro Jahr.
  • In Bayern korrelieren  die Kinderkrebsrate und Säuglingssterblichkeit mit der lokalen Höhe der natürlichen Hintergrundstrahlung zusammen.3
  • Natürliches  Radon gilt als die  Ursache für 9% aller Lungenkrebsfälle in der EU. 4
  • Für Großbritannien  ermitteln Forscher, dass die Hintergrundstrahlung die  Ursache für 15%- 20% der Leukämien bei Kindern ist. 5
  • Das Strahlenrisiko kennt keine Untergrenze. Es besteht eine lineare Dosis-Wirkungsbeziehung, d.h. je höher die Strahlung desto höher das Erkrankungsrisiko.
  • Die Landesärztekammer Baden-Württemberg erklärte in einer Presseerklärung nach einem Symposium zur Risiko der aktuellen Freigabepraxis, dass die Aussage 10µ-Siv unbedenklich seien so nicht haltbar ist. Jede Strahlung berge ein Gesundheitsrisiko.6

Fazit: 10µ-Siv sind weitaus weniger als die natürliche Hintergrundstrahlung, unbedenklich sind sie damit aber nicht.

Wie kommen die eigentlich auf den Wert?

  1. Die Grundlage für das 10 µSv-Konzept wurde 1988 von der IAEO gelegt. Hier wurde festgelegt, dass ein Strahlung, die bei einem von 10 Millionen Menschen (männlich, erwachsen, gesund!) zum Tode führt, ein tolerables Risiko sei.  Die IAEO, deren satzungsgemäße Aufgabe es ist, die Kernenergienutzung weltweit zu   beschleunigen und vergrößern, vollzieht hier also eine moralische Setzung – mit welcher Legitimation?
  2. Abgeleitet aus den Erfahrungen aus Hiroshima, Nagasaki wurde ein Risikofaktor von 0,01 Sv-1 zugrunde gelegt (Stand 1977). Die 10 µSv beruhen also ursprünglich auf einer Datenbasis, die weder Tschernobyl, geschweige denn Fukushima oder neuere strahlenmedizinische Erkenntnisse berücksichtigt hat. Der IPPNW hält anhand von neuen Erkenntnissen einen Risikofaktor von 0,20  Sv-1.7
  3. Um diesen Risikofaktor in eine Liste mit maximalen Kontaminationswerten in der Tabelle für die Freigabewerte zu kommen, werden für jedes radioaktive Element wissenschaftliche Studien  herangezogen. Dabei kritisieren unabhängige Wissenschaftler, dass die Datengrundlage auch hier völlig veraltet ist, und dass eine kritische Überprüfung häufig gar nicht möglich ist, da die Originaldaten nicht zugänglich gemacht werden.7
  4. Als letzter Schritt werden Szenarien berechnet, bei denen zum Beispiel kalkuliert wird, wieviel leicht strahlenden Bauschutt ein Deponiearbeiter im Laufe eines Jahres verarbeiten darf, um noch unter einer Belastung von 10 µSv zu bleiben. Diese Szenarien sind im Detail höchst umstritten. Sie wurde vor dem Atomausstiegsbeschluss erstellt  und beziehen sich auf deutlich geringere jährliche Bauschuttmengen.8

Fazit: Das 10µ-Siv beruht auf vielen Setzungen und nicht auf nachvollziehbaren Fakten. Die moralische Grundlage und Legitimität ist zweifelhaft. Die Datengrundlage veraltet und bezieht sich auf wesentlich geringere Mengen.

Kritik an der Methodik?

Unabhängig von der Grundsatzkritik am 10µ-Siv-Konzept stellen Umweltverbände und Anti-Atom-Initiativen an vielen Rückbaustandorten auch das Messverfahren in Zweifel. Werde so überhaupt alle Hotspots gefunden. Geht nur Material in die Freigabe, dass unter dem Freigabewert bleibt? Gehen wirklich nur Stoffe in die Herausgabe, die aus Bereichen kommen, wo nie radioaktive Stoffe gelagert wurden?

Diese Zweifel werden vor allem dadurch geschürt, dass nicht die Behörde die Messungen vor Ort unternimmt, sondern der Betreiber selbst. Es werden auch nicht alle möglichen Elemente gemessen sondern nur eine spezifische Auswahl, der Nukleidvektor. Die die anderen radioaktiven Stoffe erfolgt nur einen Abschätzung.

Schaut man sich das eigentliche Verfahren an, z.B. die vorgegebene Anzahl der Messpunkte an einer verstrahlten Betonwand oder das vorgeschriebene Vorgehen zur Herausgabe, kommt man sich vor wie in der Bildungspolitik. Hier kann jedes Bundesland eigene Vorgaben machen. Es scheint so, dass Schleswig-Holstein hier den eigenen Ansprüchen folgt und tatsächlich eine Vorreiterrolle in Deutschland einnimmt. Nachfragen lohnt sich trotzdem.

Alternativen zur Freigabe

Die berechtigte Frage auf die Kritik der Umweltverbände an der gängigen Freigabe-Praxis ist die nach den Alternativen.

Zunächst gilt hier wie bei allen andern Themen im Zusammenhang mit dem Rückbau: erst einmal nachdenken, bevor der Atommüll in den Brunnen gefallen ist. An vielen Stellen sind noch Fragen zu klären, warum dann die Eile, wenn man eh nicht weiß, wo der Atommüll oder auch nur der Freigabemüll hin soll.

Alternativen dazu werden an vielen Stellen Bundesweit und auch Weltweit diskutiert – vier werden unten vorgestellt.

Vorschlag 1: Deponieprojekt Frankreich

Manchmal lohnt es sich über den Tellerrand oder auch über Landesgrenzen zu schauen. In Frankreich wurde die Kategorie „sehr schwach radioaktive Abfälle“ geschaffen und ein eigenes Entsorgungskonzept entwickelt. Abfälle die in Deutschland in die Freigabe gehen, sollen dort in einem oberflächennahen Endlager eingelagert werden. Das soll dann durch regelmäßige Probenahme in der unmittelbaren Umgebung über einige 100 Jahre überwacht werden. So weiß man wo die Abfälle lagern und kann reagieren, die Konzept baut auch auf Rückholbarkeit, während die deutsche Freigabe das Risiko verteilt und dann wegschaut.8, 9

Vorschlag 2: Entkernen und stehen lassen

Der IPPNW hat in einer Studie zwei Alternativen begutachten lassen, die aus Sicht der Ärztevereinigung beide eine mögliche Option darstellen. Das Gutachten des Unabhängigen Sachverständigen Wolfgang Neumann kommt zu dem Ergebnis, dass beide Varianten umsetzbar sind und die flächenhafte Verteilung leichtstrahlender Abrissmaterialien verhindern10

Bei dieser Option „Stehenlassen nach Entkernung“ werden alle hoch, mittel und schwach radioaktiven Systeme, Komponenten und Gebäudestrukturen abgebaut. Nach dieser „Entkernung“ werden die Gebäude dem „sicheren Einschluss“ entsprechend bautechnisch verschlossen. Materialien, die nach der gegenwärtig üblichen Praxis „freigegeben“ werden, verbleiben in der Restanlage.

In der Anti-Atom-Bewegung gibt es über diese Alternativlösung zur Freigabe eine kontroverse Diskussion. Befürworter sehen darin die Möglichkeit die Rumpf-AKW als Mahnmal zu nutzen, damit die Atommüllproblematik nicht in Vergessenheit gerät.

Vorschlag 3: Deponierung auf dem AKW Gelände

Für die Option „Vollständiger Rückbau mit Bunker“ soll auf dem Gelände des Atomkraftwerks ein neues robustes Bauwerk („Bunker“) errichtet werden. Dort sollen alle bei Stilllegung und vollständigem Abbau des Atomkraftwerks anfallenden gering radioaktiven Materialien gelagert werden, die nach derzeitigen Planungen „freigegeben“ werden würden. Diese Variante knüpft an die Überlegungen aus Frankreich an, allerdings nicht in einem zentralen Lager sondern an jedem Rückbaustandort. Ein zusätzlicher Vorteil wäre hier die Vermeidung unnötiger (Atom-) Transporte.

Vorschlag 4: Verfüllen der Konrad-Container

Eine noch nicht in der breiten Öffentlichkeit diskutierte Variante ist die Verfüllung der Container für schwach- und mittelradioaktivem Atommüll mit Bauschutt aus dem AKW-Abriss. Bei dem aktuell gültigen Konzept für die sogenannten „KONRAD-Container“ werden die Atommüllfässer in den Container gestellt und die Hohlräume dazwischen mit Beton verfüllt.

Hierfür „sauberen“ Beton zu nehmen und den freigemessen Beton aus den AKW über das Recycling in den Neubau von Wohngebäuden zu bringen, ist das wirklich eine gute Idee? Würde man hierfür gleich den Bauschutt aus dem AKW nehmen, wäre das in vielerlei Hinsicht eine gute Lösung.

Alternativen zur Freigabe?

Alternativen zur Freigabepraxis sind also vorhanden. Alle vermeiden die flächenhafte Erhöhung der Hintergrundstrahlung. Denn auch wenn durch die Freigabe nur eine sehr geringe Erhöhung kommen wird: Sie ist vermeidbar!

Als weitere Vertiefung zum Thema empfehlen wir:

Quellen

1 J. Feinhals: „Perspektiven für die Stilllegung“; KONTEC 2009, Dresden, 15. – 17. April 2009

2 Vattenfall Nuklear Energie: Stilllegung und Abbau Kernkraftwerk Krümmel. Sicherheitsbericht. April 2016

3 Körblein: Krebsrate und Säuglingssterblichkeit in Bayern in Abhängigkeit von der natürlichen Hintergrundstrahlung, Umweltinstitut München 2002

4 Darby et al.: Radon in homes and risk of lung cancer – collaborative analysis of individual data from 13 European case controll studies, British Med. Journal 2005 Erhöhung Lungenkrebs um 16% pro 100 Bq/m3 Radon ist Ursache für 9% aller Lungenkrebsfälle in der EU

5 Little et al.: Updated estimates of the proportion of childhood leukaemia incidence in Great Britain that may be caused by natural background ionising radiation, Journal of Radiological Protection 2009

6 Dr. U. Clever, Präsident der Landesärztekammer Baden-Württemberg & Dr. N. Fischer Vorsitzender des Ausschusses Prävention und Umwelt (2018): Am Ende gilt doch: Es gibt keine unschädliche ionisierende Strahlung. – Ärzteblatt Baden-Württemberg 03.2018. www.ärzteblatt-bw.de

7 Neumann, Werner: Bis zu 1.000-fach höheres Strahlenrisiko bei der Freigabe von Atommüll aus dem Abriss von Atomkraftwerken. Strahlentelex. 7. August 2014.

8 Neumann, Wofgang INTAC 2013:  Stellungnahme zu Defiziten der Regelung von Freigaben radioaktiver Stoffe in der Bundesrepublik Deutschland. Im Auftrag des BUND

9 Entsorgungskommission ESK (2014): Vergleichsmassenströme bei der Stilllegung von Kernkraftwerken in Deutschland und Frankreich.

10  Neumann, W. / INTAC (2016):  Stellungnahme zu einem Verbleib von gering radioaktiven Materialien aus der Stilllegung von Atomkraftwerken an deren Standorten. Im Auftrag des IPPNW